Was das Bambi im Management (nicht) verloren hat
In meiner Coaching-Praxis ist einer der spannendsten Momente für mich, wenn ich neue Klient.innen kennenlerne und wir über die Ziele des Prozesses sprechen. Dem geht in der Regel voraus, dass ich mir einige Unterlagen angesehen habe (CV, ggf. Management Appraisel, Organigramm, Jobdescription, meinen Vorab-Fragebogen etc.) und wir ein Kennenlerngespräch hatten. Meine Arbeitshypothesen zu den Zielen meiner Klienten haben sich in der Regel dann schon geformt. Spannend ist der Abgleich meiner Hypothesen mit den Wünschen und Zielen meines Klienten. Denn die angegebenen Ziele entpuppen sich häufig ähnlich wie der Eisberg in der Kommunikationstheorie: Was wir als Äußerung hören, ist oft nur die Spitze des Eisberges und der große Rest ist unterhalb der Oberfläche verborgen.
Konkret bedeutet das: Es gibt immer das professionelle Thema, das der Klient als Coaching-Anlass beschreibt. Häufig sind das Themen mit Kollegen, Peers, Vorgesetzten oder der Führung eines Team. Oder deutliche Signale für die Notwendigkeit, den eigenen Führungsstil anzupassen. Oder ein bestimmtes Karriereziel. Das ist die Spitze des Eisberges über der Oberfläche. Darunter liegen meist limitierende Glaubenssätze, also nicht dienliche Verhaltensmuster, wie zum Beispiel ungünstige oder gar falsche Annahmen zu Situationen oder Personen oder Interpretationen von Schlüsselsituationen. Und manchmal liegen auch unerfüllte Sehnsüchte oder Träume oder idealistische Vorstellungen dahinter. Die Herausforderung im Coaching-Prozess liegt oft darin, genau diese unter der Oberfläche liegenden Faktoren zu ergründen.
In meiner Coachingpraxis treffe ich Führungskräfte in anspruchsvollen Positionen bis zur Top-Ebene. Sie stehen in der Regel unter (bisweilen sogar heftigem) Druck: Entscheidungen treffen, Probleme lösen, Konflikte deeskalieren, Strategien im unsicheren Fahrwasser und das eigene Team und die Organisation performant entwickeln. Sie sind gefordert, Fakten, Urteile, Analysen, Anforderungen und Ansprüche gleichzeitig zu verarbeiten und auf dieser Basis schnell und zielführend zu agieren. Je massiver solche Anforderungen auf uns zukommen, desto stärker schalten sich automatische Verhaltensmuster ein, die wiederum genau von den Faktoren beeinflusst sind, die unter der Oberfläche liegen. Denn unser Gehirn fokussiert sich in solchen Situationen vorzugsweise auf Bekanntes – es will Energie sparen.
Ist das Stressniveau konstant sehr hoch, kommen die archaischen Verhaltensmuster ins Spiel, jene mit denen wir auf Bedrohungen reagieren: “Fight”, “Flight” oder “Freeze”, also Kämpfen, Flüchten oder Totstellen. Davon haben Sie sicher schon gehört. Vielleicht haben Sie jetzt direkt eine Idee, wie sich diese Muster in unserem Büroalltag bemerkbar machen.
Führungskräfte mit “Fight”-Muster reagieren oft aggressiv auf Herausforderungen. Sie setzen gerne andere unter Druck, sind konfrontativ und treffen Entscheidungen lieber im Alleingang, um ihre Autorität zu zeigen. Kurzfristig kann dieses Vorgehen durchaus Erfolg bringen. Langfristig geht es jedoch zu Lasten der Vertrauensbildung, produziert bisweilen Angst unter den Mitarbeitern und verhindert Entwicklung.
Führungskräfte mit “Flight”-Muster gehen Konflikten oder schwierigen Entscheidungen am liebsten aus dem Weg. Sie meiden unangenehme Gespräche oder überlassen sie anderen. Sie warten lieber zu und hoffen, dass sich Themen von alleine erledigen. Das produziert in der Regel aufgestaute Probleme, unerledigte Konflikte und hinterlässt im Team Demotivation und Unzufriedenheit. Wenn in der Spitze schon niemand die Verantwortung nimmt, passiert es auch nicht bei den Mitarbeitern.
Das “Freeze”-Muster zeigt sich bei Führungskräften dagegen mehr in Unentschlossenheit, unklaren Anweisungen oder Wankelmütigkeit und wechselnden Entscheidungen. Meist reagieren Mitarbeiter darauf mit Abwarten („…kommt ja doch bald wieder anderes…“), eigener Unentschlossenheit oder komplettem Widerstand („Engagement lohnt sich hier nicht…“). Meist ist in diesen Teams keine Bindung oder Verbindung untereinander möglich, da die Vertrauensbasis nicht ausreicht. In jedem Fall führt es zu geringer Motivation und lauen Ergebnissen.
In der aktuellen Managementliteratur kommt noch ein viertes Muster zu „Fight, flight oder freeze“ dazu: “Fawn ”, übersetzt „Kitz“ oder „Bambi“. Als Verhaltensmuster ist es vielleicht am treffendsten mit „Schmeicheln“ zu umschreiben. Er erinnert an den schönen englischen Begriff „People Pleasing“. Mit diesen Verhaltensmustern arbeitet man übrigens viel in der Traumatherapie und da spielt das „Fawn“-Muster eine große Rolle.
Führungskräfte, die nach dem “Fawn”-Muster agieren, wollen anderen gefallen, um Konflikte oder Anecken zu vermeiden und passen sich nahtlos an, indem sie es allen recht machen wollen und Entscheidungen treffen, die hauptsächlich populär sind, anstatt gut für das Unternehmen. Kurzfristig lässt sich dadurch zwar Frieden und Harmonie herstellen. Langfristig führt dieses Verhalten jedoch zu einer Kultur, die weder Offenheit noch Transparenz gewährt, sondern eine Art Scheinwelt errichtet, die wiederum die strategische Ausrichtung des Teams, der Abteilung oder sogar des gesamten Unternehmens gefährden kann.
Vielleicht haben Sie jetzt eine Ahnung, welchem Muster Sie zugeneigt sind. Oder Ihre Vorgesetzte oder Ihre Mitarbeiter. Da diese Muster verstärkt werden, wenn wir unter Druck oder im Stress sind, tun wir gut daran, uns bewusst zu werden, ob wir zum Kämpfer oder zum Bambi-Verhalten neigen.
Am Anfang des Coachingprozesses analysiere ich mit meinen Klienten sehr häufig solche Muster oder Glaubenssätze, um die Themen und Faktoren zu identifizieren, die verborgen unter der Oberfläche liegen. Dabei geht es mir darum, den Klienten darin zu unterstützen, sein Verhaltensrepertoire an der einen oder anderen Stelle zu erweitern und so angemessener mit Stress und Konflikten umzugehen. Und eben nicht mehr durch ein Musterverhalten gesteuert zu sein oder ein gewohntes „altes“ Repertoire anzuwenden, das in der aktuellen Führungsaufgabe nicht mehr tauglich ist oder nicht zu einem gewünschten Erfolg führt.
Diese Spurensuche übrigens ist es, die mir an meiner Rolle als Coach und Beraterin für Führungskräfte immer wieder und auch nach so vielen Jahren der Beschäftigung damit Spaß und Freude macht. Denn dies sind häufig die entscheidenden Impulse für meine Klienten, um Herausforderungen mit gelassener Souveränität und mit mehr Leichtigkeit begegnen zu können.
Nutzen auch Sie Ihre Chancen, indem Sie Ihre Muster erkennen und Ihr Verhaltensrepertoire erweitern.