Führung bleibt eine Bringschuld
Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon kam mir kürzlich wieder unter:
„Meine Tür steht immer offen für meine Mitarbeiter!“
Diese Umschreibung höre ich oft von Führungskräften, wenn wir über ihren Führungs- und Managementstil reden. Die offene Tür soll zeigen, dass sie nicht nur das Management-Einmaleins beherrschen, sondern auch über ein modernes Führungsverständnis verfügen. Offenheit, Nähe und Ansprechbarkeit werden ja immer gefordert. Der Mitarbeiter muss mitgenommen oder gar abgeholt werden. Von Hol- und Bringschulden ist manchmal gerne die Rede. Und Kommunikation ist das Beförderungsmittel, denn Führung besteht eben zu hundert Prozent aus Kommunikation. Soweit so gut. Und die geöffnete Tür macht den guten Anfang.
Leider schwingt bei dieser Aussage latent mit, dass der Sprecher von einer klaren Rollenverteilung zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem ausgeht: Der Mitarbeiter soll doch bitte kommen, wenn er etwas will. Sie ahnen schon, worauf ich hinauswill. Manchmal ist zwar unsere Absicht eine gute – und dennoch liegen wir voll daneben.
Ich erlebe in meiner Coaching-Praxis immer wieder, dass genau diese Aussage häufig dann gewählt wird, wenn das ausgewogene Verhältnis zwischen Power und Wärme, zwischen Nähe und Distanz in der Führungsarbeit und als Leitgedanke in der eigenen Rollendefinition noch nicht gefunden ist oder noch konkreter: Wenn kein geeigneter Plan für Führungsverhalten und Wirkung vorhanden ist. Die Anforderungen an das gute Maß von Zuwendung und Laufenlassen, von Kontrolle und Vertrauen sind nicht zuletzt durch unser krisenbedingtes Andersarbeiten in den letzten fast zwei Jahren nochmal gestiegen.
Weder Mitarbeiter noch Prozesse funktionieren noch nach den altgedienten Regeln (und ich bin nicht einmal sicher, ob sie das früher taten…). Herrschaftswissen, Ansagen, Goodies für Erfolge oder Beförderungen, Sanktionen für Fehlverhalten – alles nicht mehr wirksam. Vorgesetzte tun gut daran, sich selbst in ihrer Rolle anders zu verstehen, nämlich als Dienstleister, als Coach, als Entwickler, Unterstützer und Ermöglicher. Damit meine ich überhaupt nicht, dass Sie sich auf der Nase herumtanzen lassen sollten, aber dass Sie durchaus Ihr eigenes Vorgehen stetig überdenken und sich als Teil eines sehr sensiblen und auch fragilen Systems begreifen sollten.
Kaufmännisch gesehen ist der Unterschied zwischen der Hol- und der Bringschuld der Ort der Leistungserbringung. Wo passiert die Leistung? Die Bringschuld der Führungskräfte ist längst nicht durch das Ausfüllen der Position erfüllt, sondern wird täglich neu abgefordert im Zusammenspiel mit den Mitarbeitern und den Aufgaben. Und hier gilt es, mehr zu zeigen, als nur die Tür zu öffnen.