Ich oder wir – das ist hier die Frage
Es gibt Sätze, die wir im Coaching öfter hören. Einer davon ist mir kürzlich wieder begegnet:
„An der Spitze gibt es doch nur Egoisten, das ist nichts für mich…“
Vielleicht haben Sie selbst so gedacht, als Sie jünger waren und das Treiben an der Unternehmensspitze gut beobachten konnten? Vielleicht haben Sie sich aber auch schon gewundert, warum gerade vielversprechende Potentialträger solche Aussagen tätigen? Kaum ein Vorwurf erregt derart die Gemüter, wie der des Egoismus. Besonders im beruflichen Kontext gilt diese Anschuldigung als charakterlicher Leberhaken. Im heutigen Zeitalter von ständig geforderter Teamfähigkeit gilt Egoismus oft als No-Go. Von Führungskräften wird erwartet, dass sie diese Eigenschaft meiden. Zu Recht muss daher die Frage gestellt werden, ob dies ein realistisches Unterfangen ist und ob Egoismus tatsächlich so schädlich ist, wie immer unterstellt wird.
Im Coaching treffen wir häufig auf Klienten, die berichten, dass ein bestimmter Kollege oder manchmal auch der Chef ein Egoist, ein Narzisst gar sei, selbstverliebt, manipulativ, hochemotional, und wie schwer es fällt, mit diesem Mitmenschen einen guten Umgang zu finden, gleichzeitig noch die eigenen Interessen oder Werte zu wahren bzw. sich schadenfrei auch einmal durchzusetzen. Tatsächlich sind egoistische Menschen oder auch Menschen mit narzisstischer Begabung (das sind die, die wir häufiger an der Unternehmensspitze treffen, sehr selten die mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, das ist ein Unterschied) oftmals erfolgreiche Führungskräfte, denn sie schaffen es in der Regel, ihr Umfeld mit Charme, Drive und Charisma mitzureißen, die angepeilten Ziele und Zahlen zu erfüllen und teilweise sogar out zu performen. Und ja, das System Marktwirtschaft hat auch einen Einfluss darauf und fördert Eigenschaften, die für andere bisweilen egoistisch, arrogant und anstrengend wirken können. Ganz allgemein geht beruflicher Aufstieg, besonders wenn er sehr schnell kommt oder sehr steil verläuft, mit einer Persönlichkeitsveränderung einher, die häufig dem Umfeld eher auffällt als den Aufsteigern selbst. Dieses Phänomen kennt man übrigens schon sehr lange. Ein Paradebeispiel dafür ist Julius Caesar, der von seinem eigenen Erfolg korrumpiert wurde. Viele antike Dramen thematisieren genau dieses Phänomen.
Auch erfahrene Führungskräfte können in diese Falle laufen. Es ist eine der vielen Gratwanderungen in einer erfolgreichen Karriere: gleichzeitig als Vorbild voranzugehen, sich zu behaupten in schwierigen Situationen, immer mit Optimismus und voller Überzeugungskraft und dabei gleichzeitig einen ehrlichen Umgang mit sich selbst, seinen Werten und seinem Ego entwickeln zu müssen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass Egoismus nicht grundsätzlich negativ ist. Egoismus bedeutet nämlich vor allem auch, einige erfolgsträchtige Regeln zu beherrschen, wie die Fähigkeit, Nein sagen zu können, wenn ein Interessenskonflikt vorherrscht. Oder die Ressourcen immer gut im Blick zu behalten, um sie neu zu verteilen, wenn es notwendig ist. Grundsätzlich Chancen zu nutzen, wenn sie auch nur kurz aufblitzen, zu handeln und zwar schneller als Konkurrenten und dadurch Vorteile zu realisieren. Ein positiver Egoismus bringt Menschen letztlich an die Spitze und macht dort vielleicht den Unterschied zu Mitwettbewerbern aus.
Gleichzeitig gilt: Die persönliche Selbstreflexion zum eigenen Wirken ist notwendig, um in diesem Kontext im Gleichgewicht zu bleiben, nicht abzurutschen in Selbstverliebtheit oder gar Hybris, ein Zuviel des Guten aktiv zu verhindern.
Über Menschen, die mir im Coaching ihre oben zitierte Befürchtung mitteilen, freue ich mich deswegen meist, denn zeigt die Überlegung doch vor allem, wieviel Selbstreflexion, Vorsicht, Achtsamkeit und auch Respekt vor Aufgaben an der Spitze bereits vorhanden ist. Um die römischen Feldherren an die Endlichkeit ihres Erfolgs zu erinnern, stand ihnen in der Antike übrigens bei Triumphzügen ein Sklave zur Seite, der sie mit dem Ausruf „Memento Mori“ an ihre Sterblichkeit erinnerte. In der heutigen Zeit fallen wohl jedem von uns Persönlichkeiten ein, die einen derartigen Zuruf auch manchmal gut gebrauchen könnten.